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ARMIN RAAB(Köln)Der musikalische Ton in Haydns Schöpfung und JahreszeitenWer zum ersten Mal Joseph Haydns Oratorium Die Schöpfung hört, wirdwohl zunächst vor allem dreierlei vom „musikalischen Ton“ intensiv in Erinnerung behalten: Die kühne Vorstellung des Chaos in der instrumentalen Einleitung,1 den unmittelbar folgenden großartigen Moment der Lichtwerdungund dann die vielen kleinen tonmalerischen Darstellungen der verschiedenenNaturerscheinungen, erst der Elemente und Naturgewalten, dann der Fauna,der Tierwelt. Mit diesen malerischen Momenten ist man gleich in den erstenTakten nach der Einleitung konfrontiert:2Im Anfange schuf Gott Himmel und Erde;und die Erde war ohne Form und leer;und Finsternis war auf der Fläche der Tiefe.Aber wie funktioniert hier diese musikalische Textausdeutung? Ist sie so gemeint:3Notenbeispiel 1: Recitativo „Im Anfange schuf Gott“, T. 66–71123Vgl. dazu den Beitrag von GERNOT GRUBER in der vorliegenden Publikation.Die Textzitate sind entnommen: Joseph Haydn. Die Schöpfung. Oratorium. 1798. Text vonGottfried van Swieten, hg. v. ANNETTE OPPERMANN (Joseph Haydn, Werke, hg. v. JosephHaydn-Institut Köln, 28/3), München 2008.Klavierauszüge der Notenbeispiele 1–3 von Theophil Antonicek nach Joseph Haydn. DieSchöpfung (wie Anm. 2), 12, 12f u. 14f.
78Armin Raaboder doch eher so:Notenbeispiel 2: Recitativo „Im Anfange schuf Gott“, T. 69–75Bezieht sich also der kurze instrumentale Abschnitt inhaltlich auf den ihmfolgenden oder den ihm vorangehenden Text, hat Haydn die Worte „wüstund leer“ oder die „Finsternis“ musikalisch umsetzen wollen? (Dass er miteiner so „sprechenden“ Musik etwas ausdrücken wollte, wird wohl selbst dernicht musikgeschichtlich vorgebildete Hörer empfinden.)Nehmen wir eine andere Stelle, das nächste Rezitativ:Da tobten brausend heftige Stürmewie Spreu vor dem Winde, so flogen die Wolken.Die Luft durchschnitten feurige Blitze,und schrecklich rollten die Donner umher.Hier wird die Ahnung bereits zur Gewissheit: Am Ende dieses Textabschnitteserklingt eine Musik, die sich von ihrem Charakter her keineswegs auf denschrecklich rollenden Donner beziehen kann – und in der Tat gehört sie zumnachfolgenden Text:Der Flut entstieg auf sein Geheißder all erquickende RegenDamit erklärt sich auch das eingangs genannte Beispiel: Die kurze, düsterklingende Melodie der Streichinstrumente bezieht sich auf den Text „UndFinsternis war auf der Fläche der Tiefe“. Es fällt auf, dass die Streicher vordieser Textstelle einstimmig spielen. Dieses Unisono, die Rückkehr zur Einstimmigkeit innerhalb einer an sich mehrstimmigen Musik, ist ein altes, lange
Der musikalische Ton79vor Haydn in der Musik verwendetes Mittel musikalischer Textausdeutung.4Oft wird damit auf dem Wege einer Analogie Finsternis und Tod dargestellt:Die Abwesenheit von Harmonie (wie sie in der Einstimmigkeit gegeben ist)entspricht der Abwesenheit von Licht und von Leben. So hat Haydn das Unisono auch bei der Gestaltung der Lichtwerdung im Schöpfungsprozess verwendet – also dem Übergang vom Dunkel ins Licht.Und Gott sprach:Es werde Licht,und es ward LichtHier dominiert (von einzelnen dazwischengeschobenen Akkorden abgesehen)die Einstimmigkeit, bis dann in umso wirkungsvollerem Gegensatz zum Wort„Licht“ mit ganzer Gewalt fortissimo die C-Dur-Harmonie durchbricht.Notenbeispiel 3: Recitativo „Im Anfange schuf Gott“, T. 81–86C-Dur ist traditionell die Tonart des Lichts und des Sakralen, des Prachtvollenund Repräsentativen. Das steht in Wechselwirkung damit, dass C-Dur nebenD-Dur eine der beiden Tonarten ist, in denen Trompeten eingesetzt werdenkonnten. Die ventillosen Naturtrompeten waren ja nur in der Tonart gut zuverwenden, die ihrer Grundstimmung entsprach, und Trompeten in C und in4Vgl. ARMIN RAAB, Funktionen des Unisono. Dargestellt an den Streichquartetten und Messenvon Joseph Haydn. Frankfurt am Main 1990.
80Armin RaabD waren zumindest in Wien die beiden einzigen verbreiteten Typen. Auf solche Gegebenheiten des Materials hatte sich ein Komponist einzustellen.In der Lichtwerdung fallen also das Ereignis und seine musikalische Umsetzung unmittelbar zusammen, die Einstimmigkeit mit der Dunkelheit, dieHarmonie mit dem Wort „Licht“. In den ganz zu Anfang genannten Beispielen folgen dagegen Musik und zugehöriger Text jeweils aufeinander. Eineganze Reihe von in dieser sukzessiven Weise gestalteten Tonmalereien findetsich einige Schöpfungstage später bei der Erschaffung der einzelnen Landtiere:Gleich öffnet sich der Erde Schoß,und sie gebiert auf Gottes WortGeschöpfe jeder Art,in vollem Wuchs und ohne Zahl.Wie bereits beobachtet, geht die musikalische Ausdeutung dem Text stetsvoran. Am Anfang des Accompagnato-Rezitativs öffnet sich die Erde buchstäblich, wenn eine aufsteigende Streicherfigur in weiträumige Akkorde mündet. Diesem Sich-Öffnen folgen nun einige Darstellungen, die nach unterschiedlichen Prinzipien funktionieren.„Vor Freude brüllend steht der Löwe da“ – kräftige Triller aller Streicher,unterstützt von Posaunen und Fagott, ahmen das Brüllen ganz lautmalerischnach. Dies ist die unmittelbarste Form von „Programmmusik“.Mit „Hier schießt der gelenkige Tiger empor“ befindet man sich bereits aufeiner höheren Abstraktionsebene: Die physische Bewegung des Tigers wirdsinnfällig durch eine musikalische Bewegung, eine emporschießende Figur derStreicher. Hier muss also der Hörer gewissermaßen bereits einmal um dieEcke denken und diese Analogie erkennen.Beim Text „Das zackige Haupt erhebt der schnelle Hirsch“ wird eine um nocheine Stufe höhere Abstraktionsebene erreicht: Es erklingt eine charakteristischeJagdmusik im 6/8-Takt, d. h. zum Attribut des bedauernswerten Hirscheswird die Tatsache, dass man ihm ans Leben will. Der Hörer kann dies imGrunde nur erkennen, wenn ihm dieser Typus von Jagdmusik vertraut ist; ermuss also schon „um zwei Ecken“ denken.
Der musikalische Ton81Auch die beiden folgenden Darstellungen beruhen auf solchen musikhistorischgewachsenen Topoi. Erst leitet eine charakteristisch „galoppierende“ Reitermusik zum Text hinMit fliegender Mähne springt und wieh’rt,voll Mut und Kraft, das edle Ross.Dann folgt ein Siciliano in einem beschaulichen 6/8-Takt, so wie man es etwain der Oper verwendete, um eine bukolische Schäfer-Idylle darzustellen. DerTopos greift auf die griechische Mythologie zurück, hat aber auch eine christliche Tradition, wie die Arie „He shall feed his flock like a shepherd“ („Erweidet seine Herde, die Schafe auf dem Feld“) aus Georg Friedrich HändelsOratorium Messiah zeigt (das Haydn kannte). Das Siciliano ist bei der Erschaffung der Tiere der einzige musikalische Abschnitt, der (wenn auch nichtwortwörtlich) zweimal kommt, er steht nämlich sowohl für Kühe als auch fürSchafe, die Haydn, obwohl bekanntlich selbst in einem Dorf aufgewachsen,zumindest musikalisch nicht unterscheidet:Auf grünen Matten weidet schon das Rind,in Herden abgeteilt.undDie Triften deckt, als wie gesät,das wollenreiche sanfte Schaf.Nun wechselt die Darstellungsform, wohl um der Varietas wegen, damit dieUmsetzung nicht schematisch wird. Beim nächsten Text nämlich,Wie Staub verbreitet sich,in Schwarm und Wirbel,das Heer der Insekte,erklingt die instrumentale Ausdeutung zugleich mit dem Gesang. Es ist eineMischung aus purer Lautmalerei – man hört geradewegs die Insekten surrenund schwirren – und einer Darstellung per Analogie, bei der die Bewegung derTiere der musikalischen Bewegung in schnellen Tonwiederholungen, also demTremolo der Streicher, entspricht. Eine solche Umsetzung der im Text geschilderten Bewegung findet sich dann wieder in der letzten Zeile „In langenZügen kriecht am Boden das Gewürm“. Hier kriecht die Melodie, indem siesich hin und her windet und nicht vom Fleck kommt, dazu „am Boden“, also
82Armin Raabin tiefer Lage, was in diesem Fall nicht das begleitende Orchester, sondern derSänger zum Ausdruck bringt.Doch warum geht denn nun eigentlich die Musik den entsprechenden Textenvoran? Ist das nicht eine Ungeschicklichkeit von Haydn? Leichter verständlichwäre doch die umgekehrte Reihenfolge: Wenn einem erst gesagt wird, wasman aus dem Folgenden heraushören soll. Steht hinter dieser Gestaltung vielleicht die Vorstellung, dass Musik eine Sprache für sich ist, die im Grundeauch ohne eine Überschrift verstanden wird? Zu einer weiteren möglichenAntwort später mehr.Notenbeispiel 4 (S. 82–88): Recitativo „Gleich öffnet sich der Erde Schoß“, T. 1-6555Joseph Haydn. Die Schöpfung (wie Anm. 2), 221–227. – Abbildung mit freundlicher Genehmigung des G. Henle Verlags.
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Der musikalische Ton89Der überwältigende Erfolg der Schöpfung veranlasste Haydn und seinen Librettisten Gottfried van Swieten, sogleich ein weiteres Werk selben Zuschnittsfolgen zu lassen. Die beiden wurden damit zu den Erfindern dessen, was manheute mit Bezug auf den Film Sequel nennt, die Fortsetzung einer erfolgreichen Geschichte meist mit denselben Akteuren, oft mit ähnlichen Handlungssträngen, auf jeden Fall aber mit denselben Gestaltungsmitteln.Im April 1798 wurde die Schöpfung uraufgeführt. Als sie dann ein Jahr später,im März 1799, ihre ersten Aufführungen vor großem Publikum erlebte, saßHaydn bereits an den Jahreszeiten. Hier ging die Arbeit wegen zunehmendergesundheitlicher Probleme langsamer voran; die Uraufführung erfolgte erst am24. April 1801.6Die Akteure scheinen auf den ersten Blick nicht gleichgeblieben. Genau dashat dazu beigetragen, dass die Jahreszeiten bis heute immer etwas gegenüberder Schöpfung in der Achtung oder Beliebtheit zurückstehen.7 Dieser Prozessbegann offenbar schon zu Haydns Lebzeiten. Albert Christoph Dies, einerseiner ersten Biographen, berichtet 1810, als der Kaiser Haydn gefragt habe,welchem seiner Oratorien er den Vorzug gäbe, habe Haydn die Schöpfunggenannt, denn dort „reden Engel und erzählen von Gott; aber in den Jahreszeiten spricht nur der Simon“8 (im Personenverzeichnis zu Anfang des Librettosist Simon als „Pächter“, bezeichnet, ist also ein etwas reicherer Bauer). Nochetwas grober klingt das Zitat bei einem der anderen frühen Biographen, Giuseppe Carpani: „In quella i personaggi erano Angioli; nelle Quattro stagione678Vgl. Joseph Haydn, Die Jahreszeiten. Oratorium. 1799–1801. Text von Gottfried van Swieten,hg. v. ARMIN RAAB (Joseph Haydn. Werke, hg. v. Joseph Haydn-Institut Köln, 28/4),München 2007, VIIf.Das spiegelt sich in der weit höheren Anzahl an Einspielungen wie in der einschlägigenLiteratur. So gibt es mehrere gute Einführungen zur Schöpfung, während ein Gegenstück zuden Jahreszeiten bis heute fehlt: GEORG FEDER, Joseph Haydn: Die Schöpfung (BärenreiterWerkeinführungen). Kassel et al. 1999; VICTOR RAVIZZA, Joseph Haydn. Die Schöpfung(Meisterwerke der Musik. Werkmonographien zur Musikgeschichte, 24). München 1981;BRUCE MACINTYRE, Haydn. The Creation (Monuments of Western Music). New York etal. 1998; NICHOLAS TEMPERLEY, Haydn. The Creation. Cambridge 1991.ALBERT CHRISTOPH DIES, Biographische Nachrichten von Joseph Haydn. Nach mündlichenErzählungen desselben entworfen und herausgegeben von Albert Christoph Dies, Landschaftsmaler. Wien 1810, 182.
90Armin Raabsono contadini“9 („In jener [der Schöpfung] sind die Personen Engel, in denVier Jahreszeiten Bauern“).Inhaltlich knüpfen die Jahreszeiten dagegen deutlich beim Vorgängerwerk an,der Librettist hat sie als eine Fortsetzung der Schöpfung konzipiert. Geht esdort um das Entstehen der Natur und schließlich des Menschen in der Natur,so in den Jahreszeiten um die Natur und den Jahreskreis als Allegorie desmenschlichen Lebens, vom Werden und Reifen bis hin zum Winter als Bilddes Alters und des herannahenden Todes.Im Zentrum des zweiten Teils, Der Sommer, steht die den Menschen bedrohende und wieder mit ihm versöhnte Natur. (Das ist ein im Grunde alttestamentarisches Thema, vom zürnenden und wieder verzeihenden Gott. So gesehen sind auch die Jahreszeiten ein biblisches Oratorium.) Drückende Hitzekündigt ein heraufziehendes Gewitter an, das sich in einem fulminantenSturmchor entlädt, danach kehrt die Idylle zurück – genau die Szenerie, dieBeethoven wenige Jahre später für seine Sinfonia pastorale benutzte. Dazuzunächst zwei kurze Beispiele.Vor der drückenden Hitze flieht der Mensch in die Kühle: Geschildert wirddies im Accompagnato „Willkommen jetzt, o dunkler Hain“:Am weichen Moose rieselt dain heller Flut der Bach.Und sodann folgt ein Text samt musikalischer Umsetzung, die beide demHörer der Schöpfung recht bekannt erscheinen mussten:und fröhlich summend irrt und wirrtdie bunte Sonnenbrut.Die Bedeutung dieses Textes ist vielleicht nicht auf Anhieb zu verstehen, aberdas schwärmend wirbelnde Streichertremolo klärt uns darüber auf, dass es sichbei der Sonnenbrut um nichts anderes als „das Heer der Insekte“ handelt.9GIUSEPPE CARPANI, Le Haydine ovvero lettere sulla vita e le opere del celebre maestro GiuseppeHaydn. Edizione seconda riveduta ed accresciuta dall’autore. Padua 21823, 218.
Der musikalische Ton91Das zweite Beispiel. Nach dem Gewittersturm kehrt der Frieden zurück:Die düst’ren Wolken trennen sich;gestillet ist der Stürme Wut.Und sogleich läuft wieder eine tönende Bilderfolge, eine „musikalische Diaschau“ ab, ähnlich jener bei der Erschaffung der Tiere in der Schöpfung. Dabeikommen dann endlich auch jene Protagonisten zum Vorschein, die einem ausdem ersten der beiden zusammengehörigen Oratorien vertraut sind.Zum langgewohnte Stalle kehrt,gesättigt und erfrischt,das fette Rind zurück.10Dem Gatten ruft die Wachtel schon.Im Grase zirpt die Grille froh,und aus dem Sumpfe quakt der Frosch.Nun aber noch zu einer anderen Stelle, die sich als eine Schlüsselszene für dasVerständnis der Jahreszeiten, aber rückblickend ebenso der Schöpfung erweist.Im Frühling werden im Terzett „O, wie lieblich ist der Anblick der Gefieldejetzt!“ die Erscheinungen der Natur in ähnlicher Reihenfolge wie in derSchöpfungsgeschichte beschrieben. Erst kommt die Flora, eingebettet in dengrößeren landschaftlichen Zusammenhang:Seht die Lilie,seht die Rose,seht die Blumen all!Seht die Auen,seht die Wiesen,seht die Felder all!Kurz danach die Fauna:Seht die Lämmer,10Das lautmalerisch muhende „fette Rind“ erinnert musikalisch etwas an den brüllendenLöwen.
92Armin RaabWie sie springen!Seht die Fische,Welch Gewimmel!Seht die Bienen,Wie sie schwärmen!Seht die Vögel,Welch Geflatter!Dabei kann man einmal mehr (und wiederum vor der entsprechenden Textstelle, nicht danach) die Lämmer springen, die Fische wimmeln und die Vögelflattern hören. Der Chor erfreut sich unmittelbar naiv an den Erscheinungender Natur: „Welche Freude, welche Wonne schwellet unser Herz!“ Doch dannwechselt in entscheidender Weise die Perspektive: Nachdem die beiden jüngeren Protagonisten, im Textbuch als Hanne (Sopran) und als der junge BauerLukas (Tenor) bezeichnet, auf die Erscheinungen der Natur hingewiesen haben(„Seht .“), kommt Simon (Bass) als der Ältere und Erfahrene und deutet sieWas ihr fühlet,was euch reizet,ist des Schöpfers Hauch.Van Swieten greift hier auf eine alte theologische Deutungstradition zurück:Die „Natur als zweites Buch Gottes“ (ergänzend zur Bibel als dem ersten BuchGottes). Der Mensch erfährt aus der Betrachtung der Natur etwas über Gott,Moral, sein eigenes Leben. Dieser Ansatz dürfte auch einer der Gründe für dieAbfolge Musik – deutender Text sein: Die Musik erklingt als tönende Erscheinung der Natur selbst und wird nicht anders als ein Bild in einem Emblembuch in einem weiteren Schritt durch das Wort gedeutet. (Man könnte dieAnalogie gerade anhand dieses Beispiels noch weiter differenzieren: Die Musikwäre dann die Pictura, die lediglich beschreibende Stellungnahme von Hanneund Lukas die Inscriptio, die Überschrift – die im Emblembuch freilich vor derPictura angeordnet ist –, die Schlussfolgerung Simons schließlich die einemoralische Schlussfolgerung ziehende Subscriptio.11)11Zur Emblematik siehe ARTHUR HENKEL/ALBRECHT SCHÖNE, Emblemata. Handbuch zurSinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts. Stuttgart 1967.
Der musikalische Ton93Auf den ersten Blick scheint die Schöpfungsgeschichte als Thema eines Oratoriums hinreichend begründet, stehen Oratorien doch, wenngleich nichtliturgische Musik, von den Stoffen her durchweg in biblischer Tradition.Doch van Swieten und Haydn geht es um mehr. So wie die Natur in denJahreszeiten als Sinnbild des menschlichen Lebens gedeutet wird, wird dieSchöpfungsgeschichte selbst als eine über sich hinausweisende Mahnung anden Menschen interpretiert. Daher steht am Schluss des Oratoriums im letzten Rezitativ gerade nicht der Sündenfall, sondern nur die Warnung davor:O glücklich Paar,und glücklich immerfort,wenn falscher Wahn Euch nicht verführtnoch mehr zu wünschen, als ihr habt,und mehr zu wissen, als ihr sollt!In ähnlicher Weise erklingt am Ende der Jahreszeiten in der letzten Arie dieErmahnung (in der dann noch einmal der Jahreskreis als Allegorie desmenschlichen Lebens in einen höheren Zusammenhang gestellt wird):Erblicke hier, betörter Mensch,erblicke deines Lebens Bild!Verblühet ist dein kurzer Lenz,Erschöpfet deines Sommers Kraft.Schon welkt dein Herbst dem Alter zu;schon nah’t der bleiche Winter sich,und zeiget dir das off’ne Grab.Es gibt in Haydns beiden letzten Oratorien eine Fülle der unterschiedlichstenTonfälle: Die großen Lobpreisungschöre in der Tradition Georg FriedrichHändels, die in der Schöpfung immer wiederkehrend zum Lobpreis des jeweilserreichten Stands der Weltwerdung erklingen. (In den Jahreszeiten kommenmit Sturmchor, Jagdchor oder Weinlesechor noch Genremalereien dazu.) Esgibt sogar in beiden Oratorien ein Liebesduett, hier Eva / Adam dort Hanne /Lukas. Was in der Schöpfung allenfalls fehlt, ist Komik (in den Jahreszeiten mitdem Intermezzo „Ein Mädchen, das auf Ehre hielt“ kurz vor der ernsthaftenSchlusswendung ins Transzendente vertreten) – die Schöpfungsgeschichte isteben nur bedingt witzig.
94Armin RaabDie obigen Ausführungen haben unter diesen vielen verschiedenen Tonfällenlediglich die miniaturhaften Darstellungen von Naturerscheinungen herausgegriffen – mit der Absicht zu zeigen, dass mehr dahinter steckt als eine vordergründige Tonmalerei. Der Hörer muss aber keineswegs diesen Weg gehen, erkann sich ebenso unreflektiert und vordergründig an den hübschen und effektvollen Tonmalerein erfreuen, gänzlich ohne den verschiedenartigen Bedeutungsebenen nachzuspüren. Haydns Musik ist ja deswegen bis heute soerfolgreich, weil sie ganz gegensätzliche Hörertypen zugleich bedient und verschiedene Hörweisen des musikalischen Tons nebeneinander erlaubt.
Die Akteure scheinen auf den ersten Blick nicht gleichgeblieben. Genau das hat dazu beigetragen, dass die Jahreszeiten bis heute immer etwas gegenüber der Schöpfung in der Achtung oder Beliebtheit zurückstehen.7 Dieser Prozess begann offenbar schon zu Haydns Lebzeiten. Albert Christoph Dies, einer