
Transcription
Sozialtrainingin der SchuleMNLINEONIE3. AuflagePetermann Jugert Tänzer VerbeekAT E RIAL
Petermann Jugert Tänzer VerbeekSozialtraining in der Schule
Materialien für die klinische PraxisHerausgegeben vonMartin Hautzinger und Franz Petermann
Franz Petermann Gert Jugert Uwe Tänzer Dorothe VerbeekSozialtraining in der SchuleMit Online-Materialien3., überarbeitete Auflage
Anschrift der Autoren:Prof. Dr. Franz PetermannZentrum für Klinische Psychologie undRehabilitationUniversität BremenGrazer Straße 6D-28359 BremenE-Mail: [email protected] Gert JugertElsässer Str. 17D-28211 BremenE-Mail: [email protected] Uwe TänzerPraxis für Kinder- und JugendlichenpsychotherapieBreite Straße 30D-31224 PeineE-Mail: [email protected] phil. Dorothe VerbeekVerhaltenstherapeutische Praxisfür Kinder und JugendlicheFegefeuer 12-14D-23552 LübeckE-Mail: [email protected] der Reihe »Materialien für die klinische Praxis«Prof. Dr. Martin HautzingerProf. Dr. Franz PetermannFachbereich PsychologeZentrum für Klinische Psychologie undUniversität TübingenRehabilitationSchleichstr. 4Universität BremenD-72076 TübingenGrazer Straße 6E-Mail: [email protected] BremenE-Mail: [email protected] E-Book ist auch als Printausgabe erhältlich (ISBN 978-3-621-27596-5)Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Nutzung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52 a UrhG:Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne eine solche Einwilligung eingescannt und in ein Netzwerkeingestellt werden. Dies gilt auch für Intranets von Schulen und sonstigen Bildungseinrichtungen.Haftungshinweis: Trotz sorgfältiger inhaltlicher Kontrolle übernehmen wir keine Haftung für die Inhalteexterner Links. Für den Inhalt der verlinkten Seiten sind ausschließlich deren Betreiber verantwortlich.3., überarbeitete Auflage 20121. Auflage 1997, Psychologie Verlags Union, Weinheim2., überarbeitete Auflage 1999, Psychologie Verlags Union, Weinheim Beltz Verlag, Weinheim, Basel 2012Programm PVU Psychologie Verlags Unionhttp://www.beltz.deIllustrationen: Claudia StyrskyLektorat: Karin OhmsHerstellung: Sonja FrankUmschlaggestaltung: Federico Luci, OdenthalUmschlagbild: veer/CBP 1047396Satz: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad LangensalzaE-BookISBN 978-3-621-27971-0
InhaltsübersichtVorwort zur 3. Auflage12Teil I15Grundlagen1Wozu braucht man ein Sozialtraining in der Schule?162Grundlagen des Sozialtrainings223Ziele des Sozialtrainings28Teil IITraining374 Grundprinzipien und Methoden des Sozialtrainings38557Durchführung des Sozialtrainings6 Die Trainingssitzungen7EvaluationTeil IIIAnhang72173183Verzeichnis der Arbeitsmaterialien184Literatur230Hinweise zu den übersicht5
InhaltVorwort zur 3. Auflage12Teil I15123Wozu braucht man ein Sozialtraining in der Schule?161.1Prävention von Verhaltensproblemen191.2Prävention durch das Sozialtraining21Grundlagen des Sozialtrainings222.1Sozial-kognitive Lerntheorie222.2Sozial-kognitive Informationsverarbeitung22Ziele des Sozialtrainings283.1Soziale Fertigkeiten283.2Sozial-emotionale Fertigkeiten303.3Methodisches Vorgehen im Rahmen von sozialen Kompetenztrainings34Training37Teil II4GrundlagenGrundprinzipien und Methoden des Sozialtrainings384.138Grundprinzipien4.1.1 Vertrauen und Motivation384.1.2 Klassenmanagementstrategien394.1.3 Lerntheoretische Grundprinzipien404.243Methoden und Bausteine des Sozialtrainings4.2.1 Methoden444.2.2 Bausteine53Inhalt7
568InhaltDurchführung des Sozialtrainings575.1Praktische ps655.4Abschlussspiele675.5Verhaltensregeln71Die Trainingssitzungen726.1Trainingssitzung 1: »Ist doch alles nur Spaß – passung an andere Gruppen826.2Trainingssitzung 2: »Was mir mein Körper 46.2.2Anpassung an andere Gruppen866.3Trainingssitzung 3: »Wie ich die anderen sehe«(Soziale ung an andere Gruppen896.4Trainingssitzung 4: »Wie ich mich selber 916.4.2Anpassung an andere Gruppen936.5Trainingssitzung 5: »Was ist da los?«(Wahrnehmung und g an andere Gruppen97
6.66.6.1Trainingssitzung 6: »Freude« (Gefühle)Trainingsanleitung98996.6.2Anpassung an andere Gruppen1016.7Trainingssitzung 7: »Ich habe Angst« ung an andere Gruppen1056.8Trainingssitzung 8: »Ich bändige meine Wut« ung an andere Gruppen1096.9Trainingssitzung 9: »Wenn ich mal traurig bin« ung an andere Gruppen1156.10Trainingssitzung 10: »Zwei Seiten einer Medaille«(Hemmungspotenziale)1166.10.1 Trainingsanleitung1176.10.2 Anpassung an andere Gruppen1196.11120Trainingssitzung 11: »Rosarote Brille« (Denkgewohnheiten)6.11.1 Trainingsanleitung1216.11.2 Anpassung an andere Gruppen1246.12Trainingssitzung 12: »Neue Lösungen finden«(Handlungsalternativen)1256.12.1 Trainingsanleitung1266.12.2 Anpassung an andere Gruppen1286.13Trainingssitzung 13: »Pilot und Fluglotse«(Handlungsflexibilität)1296.13.1 Trainingsanleitung1306.13.2 Anpassung an andere Gruppen1326.14Trainingssitzung 14: »Miteinander reden«(Kommunikation und Kooperation)1336.14.1 Trainingsanleitung1346.14.2 Anpassung an andere Gruppen136Inhalt9
6.151386.15.2 Anpassung an andere Gruppen140Trainingssitzung 16: »Gut zusammen arbeiten«(Kommunikation und Kooperation)1416.16.1 Trainingsanleitung1426.16.2 Anpassung an andere Gruppen1446.17Trainingssitzung 17: »Vom Streiten zur Zusammenarbeit«(Kommunikation und Kooperation)1456.17.1 Trainingsanleitung1466.17.2 Anpassung an andere Gruppen1496.18Trainingssitzung 18: »Meine Gefühle – deine Gefühle«(Kommunikation und Kooperation)1506.18.1 Trainingsanleitung1516.18.2 Anpassung an andere Gruppen1536.19154Trainingssitzung 19: »Stärken von Jungen« (Brainstorming)6.19.1 Trainingsanleitung1556.19.2 Anpassung an andere Gruppen1566.20157Trainingssitzung 20: »Stärken von Mädchen« (Brainstorming)6.20.1 Trainingsanleitung1586.20.2 Anpassung an andere Gruppen1596.21Trainingssitzung 21: »Jungen und Mädchen –Ähnlichkeiten und Unterschiede«1606.21.1 Trainingsanleitung1616.21.2 Anpassung an andere Gruppen1626.22Inhalt1376.15.1 Trainingsanleitung6.1610Trainingssitzung 15: »Miteinander reden lernen«(Kommunikation und Kooperation)Trainingssitzung 22: »Mädchen und Jungen –Ähnlichkeiten und Unterschiede«1636.22.1 Trainingsanleitung1646.22.2 Anpassung an andere Gruppen165
6.231666.23.1 Trainingsanleitung1676.23.2 Anpassung an andere Gruppen1696.247Trainingssitzung 23: »Kunterbunte Mischung –die Stärken unterschiedlicher Kulturen«Trainingssitzung 24: »Über Möglichkeiten undEinschränkungen in einer anderen Kultur«1706.24.1 Trainingsanleitung1716.24.2 Anpassung an andere Einordnung der Ergebnisse180Teil IIIAnhang183Verzeichnis der Arbeitsmaterialien184Literatur230Hinweise zu den 1
Vorwort zur 3. AuflageMehr denn je sind wir der Meinung, dass Kinder heute außer ihrer Erziehung in derFamilie einer effektiven Förderung ihrer emotionalen und sozialen Kompetenzendurch die Schule bedürfen. Denn einerseits steigen die diesbezüglichen Anforderungen an jedes Mitglied der Gesellschaft, andererseits sind die Familien häufig darinüberfordert, ihre Kinder zu emotional und sozial kompetenten Menschen zu erziehen.Nun ist die Schule der Ort für die kognitive und soziale Förderung der Kinder.Doch werden hier zugleich die Verhaltensprobleme der Kinder besonders deutlich. Dadie gehäuft auftretenden Verhaltensprobleme Lernmöglichkeiten und Entwicklungschancen von Kindern erheblich einschränken, sollten der Schule und allen Pädagogeneine Möglichkeit gegeben werden, eine frühzeitige und gezielte Förderung des Sozialverhaltens durchzuführen. Hier setzt das »Sozialtraining in der Schule« an: Im Einzelnen ist damit ein Trainingsprogramm zum Aufbau und zur Einübung emotionalerund sozialer Fertigkeiten, Fähigkeiten und Kompetenzen im Rahmen der Schulklasse gemeint. Diesen Zielsetzungen entsprechend hat die Autorengruppe seinerzeit einstrukturiertes Programm sozialen Lernens zur Verfügung gestellt. Das Training istzugleich ein präventives Programm gegen Aggression und Gewalt einerseits sowieAngst und Apathie andererseits.Das Autorenteam hat seither viel Bestätigung von Lesern, erfolgreiche Evaluationenvon Wissenschaftlern, eine starke Nachfrage und gute Rezensionen erfahren. Dennochhaben wir uns vor zwei Jahren der Notwendigkeit gestellt, das bewährte Trainingsbuchgründlich zu überarbeiten:Wir haben es vor allem in dem Manual oder Handbuchteil (Kap. 5 und 6) zum Teilneu gestaltet zu einem modernen und breit gefächerten Trainingsprogramm emotionaler und sozialer Kompetenz, zur Prävention von Aggression und sozialer Unsicherheit, zum Teil erweitert und modifiziert. Die theoretische Basis (Kap. 1–3) sowie derdidaktische und methodische Teil (Kap. 4) sind ebenfalls gründlich überarbeitet undauf den neusten Stand gebracht worden. Zum Kapitel 7 »Evaluation« über die Wirksamkeit des Trainings sei an dieser Stelle angemerkt, dass wir das erneuerte Trainingsprogramm zunächst nur mit einer kleineren Gruppe von Schulkindern durchführenkonnten, als wir vorgesehen hatten. Die Ergebnisse einer weiteren Studie werden wirnach Durchführung in einer einschlägigen Zeitschrift veröffentlichen.Ein praxisnahes und effektives Trainingsbuch braucht gewöhnlich mehrere Jahre,bis es in die Hände derer gelangt, die es als pädagogisches Arbeitsinstrument nutzenwollen. Über die Autoren hinaus ist immer eine ganze Reihe von Personen an derErstellung beteiligt:12Vorwort zur 3. Auflage
! Herzlich danken wir an dieser Stelle den Grundschulen im Landkreis Peine, auchdem Landesschulamt Niedersachsen, den Lehrerinnen und ihren Schülern, die dasSozialtraining über ein Schulhalbjahr hindurch durchgeführt bzw. mitgemacht haben.! Dieser Dank gebührt in gleicher Weise den Eltern der Schüler, die das Sozialtraining mitgetragen und die Fragebogen zu Beginn und am Ende des Trainings geduldig ausgefüllt haben.! Die Befragung der Schüler, Lehrerinnen und Eltern wäre ohne die Mithilfe vonFrau Sonja Eggers (Psychologiestudentin aus Braunschweig) nicht möglich gewesen. Dafür danken wir ihr sehr.! Die Einzelbeiträge, Korrekturen, Nachträge, Fragebögen, die bei dem Schreibendes Manuskripts und bei der Durchführung der Evaluation anfallen, wollen gesammelt, eingearbeitet, gerechnet und dargestellt sein. Das alles hat Frau Dr. AnneToussaint vom Zentrum für Klinische Psychologie und Rehabilitation der Universität Bremen geleistet. Wir sind ihr zutiefst dankbar für ihre große Hilfe.! Es ist bei Fachbüchern immer empfehlenswert, das Manuskript von Fachleuten außerhalb des Teams gegenlesen zu lassen. So hat Frau Dipl.-Psych. Hedwig Jugertdas erneuerte und verbreiterte Trainingsmanual (Kap. 6) kritisch gelesen und konstruktiv kommentiert. Ihr sei an dieser Stelle ebenfalls gedankt.! Wir danken der Illustratorin dieses Buches, Frau Claudia Styrsky, für ihre einfühlsame und originelle grafische Gestaltung des Trainingsmaterials und Geduld mitmancherlei Wünschen von Autoren nach Veränderung ihrer Vorlagen.! Last but not least danken wir dem Beltz Verlag und seiner Lektorin, Frau Dipl.Psych. Karin Ohms, für die Beratung, Ermutigung und Geduld bei Anfragen undWünschen.Wir legen das vorliegende Trainingsbuch gerne in die Hände der Leser, damit sie esmit Schülern durchführen können. Wir wünschen den Anwendern unseres neuenManuals viele positive Erfahrungen, Freude im Training mit den Schülern und guteErfolge. Da wir daran interessiert sind, welche Erfahrungen sie mit dem neuen Manualim Sozialtraining machen, freuen wir uns über jegliche Rückmeldung von ihnen während der Durchführung.Bremen, im Juli 2012Franz Petermann, Gert Jugert, Uwe Tänzer und Dorothe VerbeekVorwort zur 3. Auflage13
Teil IGrundlagen
1Wozu braucht man ein Sozialtraining inder Schule?FallbeispielRené, 4. KlasseRené ist zehn Jahre alt und besucht die 4. Klasse einer Grundschule. Er lebt gemeinsam mit seinem 7-jährigen Bruder, seiner 2-jährigen Schwester und seiner Mutterin einer kleinen Wohnung. Vor der Schule soll er schnell frühstücken, Gesichtwaschen, Zähne putzen, sich anziehen, seine Schulsachen packen und für sich sowieseinen Bruder ein Pausenbrot zubereiten. So treibt René den Bruder an, er solle endlich voran machen. Es gibt Streit, weil sein Bruder sich nichts von ihm sagen lassenwill. Als René seinen Bruder anschreit, geht seine Mutter dazwischen. Sie macht ihmVorwürfe, er sei schließlich zehn Jahre alt und sein Bruder erst sieben.Auf dem Weg zur Schule ist René sauer und fühlt sich ungerecht behandelt. Aufdem Pausenhof angekommen, sieht er seine Klassenkameraden Fußball spielenund will mitmachen, aber keiner spielt ihm einen Ball zu. Daraufhin läuft er einfach dazwischen und erkämpft sich den Ball. Der Junge, den er dabei umgelaufenhat, schaut ihn verärgert an und fragt »Sag mal, spinnst du?«. René spielt weiterund ist ganz ins Spiel vertieft, die anderen machen ihm den Weg frei.Es klingelt und der Unterricht beginnt. Erste Stunde Deutsch! René mag dieLehrerin gar nicht. Und mit dem Schreiben und Lesen hat er sowieso riesige Probleme. Da hilft auch die nervige Förderstunde nichts. Gerade wird das Buch »RonjaRäubertochter« durchgenommen und jeder Schüler soll einen Absatz vorlesen.Nun ist René an der Reihe und er beginnt stockend und langsam mit den erstenSätzen. Einige Mädchen kichern leise. Sofort stoppt er und starrt nur noch in seinBuch. Die Lehrerin ermuntert ihn, weiter zu lesen, doch René bleibt still und sitztstocksteif da. Er ist wütend und schämt sich. Er weiß genau, was die anderen vonihm denken, die halten ihn sowieso alle für blöd. Jonas, der hinter ihm sitzt, flüstertihm den nächsten Satz zu. Aber da wird René erst so richtig sauer. »Halt die Fresse,du Arschloch!«, zischt er ihn drohend an. Daraufhin ermahnt ihn die Lehrerin,dass sie solche Ausdrücke in ihrem Unterricht nicht hören will, das habe sie ihmschon häufiger mitgeteilt. Wenn er dies nicht ändere, dann rufe sie seine Mutter an.Die meisten Mitschüler machen um René einen großen Bogen und meiden womöglich den Kontakt mit ihm.Marvin, 6. KlasseNach einem Umzug und dem damit verbundenen Schulwechsel besucht Marvinnun seit einigen Wochen die 6. Klasse seiner neuen Schule. Er konnte schon erste!161 Wozu braucht man ein Sozialtraining in der Schule?
Kontakte knüpfen, so dass er die große Pause mit drei seiner neuen Mitschülerverbringt. Kurz vor Ende der Pause verlässt die Aufsicht den Schulhof und begibtsich in das Schulgebäude. Diesen Augenblick nutzen fünf Jugendliche einer8. Klasse und nähern sich Marvin. Sie umringen und schubsen ihn, sodass er inihrem Kreis hin und her taumelt. Als der Aufsicht führende Lehrer wieder an derSchultür erscheint, lassen ihn die Jugendlichen los, und Marvin geht benommenund verwirrt zu seinen Klassenkameraden, die sich nicht getraut haben, ihm gegen die großen Jugendlichen beizustehen.Damit nicht genug. Auch in der Klasse gibt es Mitschüler, die es auf Marvinabgesehen haben. Nachdem sich Marvin etwas erholt hat, geht er in seinen Klassenraum. Dort muss er feststellen, dass ein Mitschüler die Pause genutzt hat, seinmitgebrachtes Getränk in und über seiner Schultasche auszuschütten. Das erinnert ihn niederschmetternd an die letzte Woche. Da hatten sich etliche Klassenkameraden über Marvin lustig gemacht, weil er als Pausengetränk gerne Tee trinkt.Immer und immer wieder haben sie ihn damit aufgezogen. Völlig niedergeschlagen setzt er sich auf seinen Platz.Selbst im Unterricht der dritten Stunde wird Marvin nicht in Ruhe gelassen. Alser vom Lehrer zu einer Antwort aufgefordert wird, hört er geflüsterte Kommentare wie »Der checkt das doch sowie so nicht« oder »Der ist auch noch blöde«.Nach der vierten Stunde, in der zweiten großen Pause, will sich Marvin an denBeratungslehrer der Schule wenden. Der ist aber ausgerechnet heute nicht in derSchule, und auch der Klassenlehrer hat in dieser Pause keine Zeit für Marvin.Voller Sorge denkt er an die letzte Stunde und seinen Weg nach Hause. Denn nureinige Tage, nachdem Marvin an die neue Schule gewechselt war, lauerten ihmJugendliche auf dem Heimweg auf. Sie jagten ihn den ganzen Weg, und er wurdemehrfach von hinten geschubst, sodass er hinfiel und sich die Knie aufschlug.Ihm graut vor der Zukunft an dieser Schule!!!Ein Monat später sieht die schulische Situation von Marvin schon etwas besseraus. Der Aufsicht führende Lehrer erzählte Marvins Klassenlehrer von den Übergriffen der Achtklässler. Marvins Klassenlehrer führte seither zwei Gespräche überdas Mobben mit seiner Klasse, genau wie es der Klassenlehrer mit der 8. Klassetat. Die körperlichen Angriffe gingen zurück, die verbalen Attacken jedoch kaum.Die beiden Lehrer waren nun trotz ihres großen inhaltlichen Pensums und ihrerzahlreichen Aufgaben als Klassenlehrer entschlossen, das Sozialverhalten ihrerSchüler gezielter zu fördern. Ihnen war durch die gehäuften Vorfälle in letzter Zeitklar geworden, dass sie sich bisher mit der Rolle des Wächters und Mahners begnügten und sich weniger als Pädagogen verstanden, die auch die emotionale undsoziale Entwicklung von Jugendlichen fördern. Sie erkundigten sich in örtlichenBeratungsstellen und im Internet nach Möglichkeiten, den unsozialen Verhaltensweisen einiger ihrer Schüler langfristig entgegenzuwirken. Sie erfuhren wiederholt,dass ein stabiles Vertrauensverhältnis zu den Schülern und ein gutes KlassenklimaVoraussetzung für eine systematische Förderung des Sozialverhaltens sei.1 Wozu braucht man ein Sozialtraining in der Schule?17
Weiterhin würden in der Klasse Verhaltensregeln eingeführt, zum Beispiel für einefaire Kommunikation untereinander. In Rollenspielen lernten die Jugendlichen, sowohl konstruktiv zusammen zu arbeiten und im Schulalltag gewaltfrei zu bestehen,als auch Konflikte ohne Aggression zu lösen. Mit Hilfe ähnlicher Methoden würden die Jugendlichen lernen, ihre sozial-emotionalen Kompetenzen zu entwickeln,zum Beispiel mit Ärger und Wut angemessen umzugehen.Die beiden Pädagogen haben sich dafür entschieden, nach einer Fortbildung diesozialen Fähigkeiten und Fertigkeiten ihrer Schüler mit Hilfe eines SozialtrainingsHandbuches gezielt zu fördern, um so der Gewalt unter ihren Schülern vorzubeugen.Kinder wie René, häuslich und schulisch überfordert und auf ihre Misserfolge mitAggressionen reagierend, gibt es viele an unseren Schulen. Auf die häusliche Situationlässt sich im schulischen Kontext nur begrenzt Einfluss nehmen. Das Umfeld Schuleals zweite große Lebenswelt von Kindern in diesem Alter bietet jedoch die Chance,positive und korrigierende Erfahrungen zu machen und sozial-emotionale Kompetenzen zu erwerben, die für die Entwicklung eines stabilen Selbstwertgefühls unerlässlich sind. Die Situation von Marvin zeigt, dass in Mobbingsituationen mehr als reinesErmahnen der Täter getan werden muss.Solche Klassensituationen, wie sie eben geschildert wurden, können für einen Lehrer eine der vielen Schlüsselmomente im Lehreralltag sein, die zu dem Entschluss führen, das Sozialverhalten ihrer Schüler systematischer zu fördern und das Klassenklimazu verbessern. Um das tun zu können, müssen die Schüler eine Bereitschaft entwickeln, sich mit ihrem Verhalten im Umgang mit sich selbst und mit anderen auseinanderzusetzen. Voraussetzung hierfür ist eine vertrauensvolle Beziehung zwischen denSchülern und dem Pädagogen, der die Aufmerksamkeit auf die Stärken und positivenVerhaltensansätze des Schülers lenkt, ebenso aber auch Fehlverhalten benennt sowieÄnderungen des Verhaltens einfordert. Es sollten verbindliche Verhaltensregeln aufgestellt werden, die den Kindern eine Grundlage für das gemeinsame Miteinanderliefern und damit einen sicheren sozialen Rahmen herstellen. Dazu gehören ebenfallstransparente, der Situation angemessene Maßnahmen bei wiederholter Überschreitung von Regeln. Und nicht zuletzt müssen Kinder sozial-emotionale Kompetenzenerwerben, um sich sozial angemessen behaupten zu können. Bezogen auf unsere Beispiele bedeutet dies:René sollte im Weiteren mehr Anerkennung für das erfahren, was er sich schulischtraut und schafft, um sein Selbstwertgefühl zu stärken. Seine aggressive Beschimpfungeines Mitschülers sollte als Fehlverhalten benannt werden. Es wäre eine angemesseneForm der Wiedergutmachung durch René, sich in Anwesenheit der Klasse bei Jonaszu entschuldigen. Eine Verhaltensregel zur sozialen Kommunikation sollte für diegesamte Klasse eingeführt werden, deren Einhaltung regelmäßig von der Klasse undvom Lehrer zu überprüfen wäre. René benötigt zudem Hilfestellung, um seine Emotionen besser regulieren zu lernen und diese in sozial kompetenter Form zum Ausdruckzu bringen.181 Wozu braucht man ein Sozialtraining in der Schule?
Marvins Klassenkameraden sollten lernen, nicht wegzusehen, sondern einzugreifen,wenn er (oder ein anderer Schüler) angegriffen wird. Auch sollten sie seine geringfügige Andersartigkeit (Tee statt Softdrink) akzeptieren und seine Schwierigkeiten mitdem Unterrichtsstoff nicht herausstellen. Seine Mitschüler müssen lernen, dass verbale und körperliche Gewalt nicht akzeptabel sind und ein achtsames Miteinander eineVoraussetzung für gutes Lernen und Leben in der Schule ist.Im schulischen Alltag stellt es Lehrer jedoch oft vor eine schwierige Aufgabe, nebender kognitiven Bildung der Schüler im Rahmen ihres Bildungsauftrages auch noch diesoziale Entwicklung ihrer Schüler zu fördern. Lehrer fühlen sich mitunter mit diesenvielfältigen Anforderungen ihres Berufes überlastet, was zu Frustration und Resignation führen kann. Hier bietet das »Sozialtraining in der Schule« Lehrern zweierlei:Zum einen die Möglichkeit, mit Hilfe des Manuals (Kap. 6) Schülern zu einem sozial-kompetenten Umgang mit sich und anderen zu verhelfen und zum anderen, sichgleichzeitig als Lehrer im pädagogischen Handeln wieder selbstwirksam zu erleben.1.1 Prävention von VerhaltensproblemenPrävention zielt darauf ab, der Entstehung einer psychischen Störung bei Kindernvorzubeugen, indem eingegriffen wird, bevor sich eine Störung verfestigt (Heinrichs et al., 2008). Prävention folgt demnach dem Gedanken »Vorbeugen ist besser alsheilen« (Reinecker & Petermann, 2005) und dieses Ziel ist dadurch erreichbar, dassGesundheitsrisiken verringert und Ressourcen sowie Kompetenzen aufgebaut werden, die förderlich für die Gesundheit sind.Risiko- und SchutzfaktorenFür die häufiger auftretenden Verhaltensstörungen im Kindesalter wurden in den letzten Jahren eine Reihe von Risiko- und Schutzfaktoren identifiziert (Bayer et al., 2011;Holmes et al., 2001; Murray & Farrington, 2010). In der Klinischen Kinderpsychologiewird unter einer Verhaltensstörung in der Regel ein wiederkehrendes Muster von Verhaltensproblemen verstanden, das in der Folge zu einer Beeinträchtigung des Kindesin seiner weiteren Entwicklung führt (Petermann, 2008). Der Störungsbegriff beziehtsich hierbei ausdrücklich auf das Verhalten. Bei Verhaltensstörungen unterscheidetman zum einen Kinder mit externalisierenden Problemen, deren Verhalten sich alsausagierend und wenig reguliert charakterisieren lässt (z. B. aggressives oder hyperaktives Verhalten), und zum anderen Kinder mit internalisierenden Verhaltensproblemen, die ängstliches oder depressives und sozial unsicheres Verhalten zeigen. Eshandelt sich also jeweils um ein Bündel von problematischen Verhaltensweisen.Maßnahmen universeller kindbezogener Intervention sollten sich an nachgewiesenbedeutsame Risiko- und Schutzfaktoren richten, die bestenfalls mit dem zu verhütenden Verhalten ursächlich verbunden sind (Scheithauer & Petermann, 2010). AlsRisikofaktoren für Verhaltensprobleme wurden Geschlecht (männlich), schwierigesTemperament (z. B. Impulsivität oder negativer Affekt), niedrige Intelligenz, geringe1.1 Prävention von Verhaltensproblemen19
emotionale Fertigkeiten (z. B. geringe Empathiefähigkeit), verringerte sozial-kognitive Fähigkeiten und wenig soziale Fertigkeiten identifiziert (Denham et al., 2003;Eisenberg et al., 2005a; Murray & Farrington, 2010).Die Kenntnis über Risiko- und Schutzfaktoren von Verhaltensstörungen macht esmöglich, in der Prävention gezielt die Bereiche zu fördern, die jene Verhaltensweisenstärken, die dem Problemverhalten entgegenwirken.Universelle und selektive PräventionMan unterscheidet universelle und selektive Prävention, je nachdem welche Zielgruppe durch die Maßnahme angesprochen wird.Universelle Prävention. Liegt der Interventionszeitpunkt sehr früh, wenn (noch)überhaupt keine Probleme zu beobachten sind und alle Personen einer Gruppe vonder Prävention angesprochen werden, bezeichnet man dies als universelle Prävention.Es wird demzufolge nicht beachtet, ob einige Schüler, beispielsweise aufgrund einerfamiliären Belastung, einem größeren Risiko für eine Verhaltensstörung ausgesetztsind als andere, sondern es nehmen alle Schüler an einer präventiven Maßnahme teil.Selektive Prävention. Wird dahingegen eine spezielle Gruppe von Kindern für einePräventionsmaßnahme ausgewählt, wird dies als selektive Prävention bezeichnet. DieAuswahl vollzieht sich meist anhand eines bestehenden Risikofaktors, da dieser dieAuftretenswahrscheinlichkeit einer psychischen Störung erhöht (vgl. Heinrichs et al.,2008).Einbezug wichtiger Bezugsgruppen. Neben der Unterscheidung von Präventionsmaßnahmen nach dem Belastungsgrad der Zielgruppe hat es sich zudem als sinnvollerwiesen, präventive Maßnahmen auch danach zu unterscheiden, ob sie sich direkt andie zu fördernde Person (wie Schüler) oder an andere wichtige Personen, wie Elternund/oder Lehrer richten (vgl. Reinecker & Petermann, 2005).Vor allem bei jüngeren Kindern ist es notwendig, die Eltern einzubeziehen. Besonders Maßnahmen, die auf eine Förderung des Erziehungsverhaltens abzielen, habensich hier bewährt. Es bestehen auch sogenannte Mehrebenenprogramme, bei denenpräventive Maßnahmen für Eltern, Schüler und Lehrer miteinander kombiniert werden. Dies gewährleistet, dass alle wichtigen Lebensbereiche eines Kindes gleichermaßen berücksichtigt und angesprochen werden. Maßnahmen, die die Eltern mit einbeziehen, sind oft mit hohem Aufwand verbunden und die praktische Erfahrung zeigtdass meist nur engagierte Eltern teilnehmen und die Eltern von gefährdeten Kindernfehlen. Dennoch ist es immer wünschenswert, die Eltern in Übereinstimmung mitSchulleitung und Lehrerkollegium zur Mitarbeit zu ermutigen.!Bei dem vorliegenden Sozialtraining handelt es sich ausdrücklich um ein universelles Programm, das dementsprechend alle Schüler einer Klasse profitierenlässt und von einer Bezugsperson (wie z. B. dem Lehrer) durchgeführt werden sollte.201 Wozu braucht man ein Sozialtraining in der Schule?
1.2 Prävention durch das SozialtrainingUniverselle Prävention durch das Sozialtraining. In Deutschland und generell in westlichen Industriegesellschaften weist jedes fünfte Kind psychische Auffälligkeiten auf(Belfer, 2008; Ravens-Sieberer et al., 2007). Zum Abbau oder der Verhinderung solcherpsychischer Probleme stellt die universelle Prävention eine gute Möglichkeit dar. AlsVorteil der universellen Prävention wird die Tatsache gesehen, dass kein Kind stigmatisiert, d. h. »abgestempelt« wird, da alle Schüler an der Maßnahme teilnehmen undzudem eine größere Menge betroffener Familien aus der Mittel- und Oberschicht erreicht wird. Diese tragen zwar weniger Risikofaktoren als untere soziale Schichten, stellen jedoch in westlichen Gesellschaften die Mehrheit der Bevölkerung dar (Bayer et al.,2007 zitiert nach Heinrichs et al., 2009). Da es oft schwierig ist, risikobelastete Kinderauszuwählen, sollten eben auch universelle Präventionsmaßnahmen zur Verringerungkindlicher Verhaltensauffälligkeiten eingesetzt werden (Heinrichs et al., 2009).Natzke und Petermann (2009) überprüften und wiesen die Wirksamkeit einesschulbasierten Trainingsprogramms zur Prävention aggressiv-oppositionellen unddissozialen Verhaltens nach. Nach Abschluss dieses universell-präventiven Verhaltenstrainings für Schulanfänger berichteten die Lehrer ein Jahr später eine deutlicheAbnahme aggressiv-oppositionellen Verhaltens sowie einen merklichen Zuwachs ansozialen und emotionalen Kompetenzen bei den Schülern.Gezielte Prävention durch das Sozialtraining. Von der universellen Prävention wirddie selektive bzw. die gezielte Prävention abgegrenzt. Sie richtet sich an Gruppen vonPersonen, die ein erhöhtes Risiko für z. B. Verhaltensstörungen haben oder erste Anzeichen einer Störung aufweisen. Vorteilhaft bei solchen Interventionen ist die Tatsache,dass gezielt spezifische Risikofaktoren angesprochen werden. In Abhängigkeit der erwünschten Ziele ist je nachdem eine universelle oder eine gezielte Prävention einzusetzen. Im Schulkontext sollte alles getan werden, dass einzelne gefährdete Schüler nichtdurch die Teilnahme an einem spezifischen Training zusätzlich stigmatisiert werden.Bei einer zusammenfassenden Betrachtung der Wirksamkeit schulbasierter, psychosozialer Präventionsprogramme zur Verminderung aggressiven Verhaltens erwiesen sich universelle Programme sowie gezielte Programme für Kinder, bei denen bereits erste Anzeichen einer Verhaltensauffälligkeit vorlagen, als besonders erfolgreicheAnsätze (Wilson & Lipsey, 2007). Welche Art der Prävention (universell oder selektiv)auf welcher Ebene (Schüler, Lehrer/Eltern oder Schulebene) eingesetzt werden soll, istnach den gewünschten Zielen und nach den Ressourcen (persönliche Fähigkeiten, Arbeitszeit, finanzielle Möglichkeiten) stets im Einzelfall z
Universität Bremen Grazer Straße 6 D-28359Bremen E-Mail: [email protected] Dr.GertJugert Elsässer Str. 17 D-28211 Bremen E-Mail: [email protected] Herausgeber der Reihe»Materialienfür dieklinische Praxis« Prof.Dr. Martin Hautzinger FachbereichPsychologe Un